Woche der Meinungsfreiheit 2024
Schreibwettbewerb zum Thema Meinungsfreiheit
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Schreibwettbewerb zum Thema Meinungsfreiheit

„Schreiben ist wie Singen, es verbindet und es schafft Emotionen“ - unter diesem Motto hatte die Initiative „3. Oktober – Deutschland singt und klingt“ am Tag der Deutschen Einheit einen Schreibwettbewerb zum Thema Meinungsfreiheit zum ersten Mal ins Leben gerufen. Dieser möchte die musikalischen Aktivitäten des Vereins mit literarischen verbinden und kreative Menschen aus vielen Kulturen im Land gewinnen, sich mit den Grundfreiheiten unserer Demokratie intensiver auseinanderzusetzen. Ziel des Wettbewerbs ist, (junge) Menschen in Deutschland mit unterschiedlichen biographischen Hintergründen zur Auseinandersetzung mit der Meinungsfreiheit zu animieren und die Wertschätzung dieses Freiheitsrechtes zu erhöhen. Die Gewinner*innen des bundesweiten Schreibwettbewerbs „Die Freiheit, die ich meine – Meinungsfreiheit“ wurden am 28. April 2023 auf einer Festveranstaltung im Rahmen der Leipziger Buchmesse gekürt. Bernd Oettinghaus, Vorsitzender der Initiative „3. Oktober – Deutschland singt und klingt“, und Frank Wend Referatsleiter für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit in der Sächsischen Staatskanzlei, überreichten die Preise im Gesamtwert von 4.500 Euro. Die Veranstaltung wurde musikalisch durch die Sängerin Linda Feller mit dem Volkslied Die Gedanken sind frei“ begleitet. Poetry Slammerin Ayleen Hammer (Geithain) begeisterte mit ihrem Werk „Überall, aber bitte nicht alles“. Durch die Veranstaltung führte die Schauspielerin und Autorin Doro Frauenlob. Die siebenköpfige Jury aus Autor*innen, Journalist*innen und Literaturexpert*innen hatte die Qual der Wahl aus fast 700 Einsendungen verschiedenster literarischer Gattungen. 43 Werke schafften es letztendlich auf die Shortlist. Bis zum 27. April gab es außerdem für Leser*innen die Möglichkeit, aus den Shortlist-Beiträgen online ihren Publikumsliebling zu wählen. In der zusätzlichen Kategorie „Sonderehrung“ wurden ungewöhnliche literarische Formen wie z.B. Theaterstücke, Briefe oder Lieder gewürdigt. Die Sieger*innen in den verschiedenen Kategorien: Kategorie 16 bis 26 Jahre Platz 1: Artemis Lindewind, „Ich glaube nicht mehr an die Demokratie“, Langenhagen Platz 2: Lea Hartmanns, „Im Fadenkreuz“, Münster Platz 3: Kathrin Thenhausen, „brennesselsalat“, Potsdam Kategorie ab 26 Jahre Platz 1: Maike Suter, „Nieder mit Hans-Rüdiger“, Bernau Platz 2: Robin Bergauf, „Ein 89er Freiheitskämpfer schaut montags aus dem Fenster“, Weimar Platz 3: Melanie Rahimpour, „Die Freiheit, die ich meine ...“, Mainz Schüler*innen der Sekundärstufe in Sachsen Carlotta Oertel, „Sturmbeschwörer“, Krumhermersdorf Sonderehrungen Jacqueline Roussety, Theaterstück: „Menschen aller Nationen, hört meine Rede“, Berlin Clara Lösel, Poetry Slam: „Ich meine was, was du nicht meinst“, Linden Publikumsvoting Clara Lösel, Poetry Slam: „Ich meine was, was du nicht meinst“, Linden „Die überwältigende Resonanz hat klar gezeigt: Der Erhalt demokratischer Werte in komplizierten Zeiten treibt viele Menschen um, egal welchen Alters oder welcher Herkunft“, sagt Bernd Oettinghaus, Vorsitzender der Initiative „3. Oktober – Deutschland singt und klingt“. „Besonders freue ich mich, dass sich so viele junge Menschen und die Schüler*innen aus Sachsen aktiv am Wettbewerb beteiligt haben.“ Projektleiterin Susanne Tenzler-Heusler hebt die Qualität vieler Beiträge hervor. „In den Einsendungen waren für uns viele Entdeckungen dabei, denen man eine literarische Zukunft wünschen möchte“. Zur Jury gehörten Nina George (Autorin und Präsidentin des European Writers' Council), Thomas Bärsch (Journalist beim ZDF), Lena Falkenhagen (Autorin und Bundesvorsitzende des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller VS), Tilman Spreckelsen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Robert Dobschütz (Journalist und Herausgeber der Leipziger Internetzeitung), Bernd Oettinghaus (Autor und Vorsitzender von 3.Oktober Deutschland singt), Susanne Tenzler-Heusler (brandvorwerk-pr, Projektleitung Schreibwettbewerb), Emma Tenzler, Schülerin, sowie Birgit Schulze Wehninck (Geschäftsführerin des Buchkinder Leipzig e.V.). Der Wettbewerb ist mit insgesamt 4.500 Euro dotiert. Die Preisgelder wurden von der Kampagne des Freistaats Sachsen „So geht sächsisch.“, Porsche Leipzig und dem Thinktank Texentium, Mönchengladbach, zur Verfügung gestellt. Texte und mehr Informationen finden sich unter www.3oktober.org/schreibwettbewerb Mehr Informationen unter: www.3oktober.org/schreibwettbewerb ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------   Gewinnertext der Kategorie 16 bis 26 „Ich glaube nicht mehr an die Demokratie“ Artemis Lindewind CN: Dieser Text enthält Darstellungen von demokratiefeindlichen Positionen, Hatespeech, sowie deren Wirkung auf Opfer wie Paranoia, Depressionen und Suizid. Quellen, die zur Inspiration dienten, sind im Anschluss angegeben. Die Blicke, die sich auf Yaren richteten, ließen ihn noch starrer zu dem gläsernen Kuppeldach emporblicken. Einschüchternd groß war alles an dem Gebäude. Die Treppe, die Fenster, die klassizistischen Säulen, die das Vordach stützten, sogar die Rasenfläche ließ einen auf die Größe eines Kindes schrumpfen. Zu dritt standen sie vor dem Landtag in Berlin. Katja, Noah und zwischen ihnen Yaren. Es war früher Abend, die Sonne war verschwunden. Eine schwache Spur aus Licht hatte sie am Horizont zurückgelassen. Je dunkler sie wurde, desto heller brannten die Lichter von Berlin. „Wie meinst du das?“ Katja hatte den verständnislosen Tonfall, den Yaren erwartet hatte. „Ich meine genau das“, erwiderte Yaren, „Macht dir eine Regierungsform, an deren Rechtmäßigkeit niemand mehr zweifelt, keine Angst? Glaub nicht, dass ich daran zweifeln will. Es passiert einfach. Ich will daran glauben, aber genau weil ich will, kann ich nicht. Ich frage mich, ob die Menschen einmal mit der gleichen Selbstverständlichkeit an die Rechtmäßigkeit ihres Königs geglaubt haben. Ich frage mich, ob es bessere Regierungsformen gibt, die wir nicht finden, weil wir nicht suchen.“ „Spinnst du?“ Noah schien nicht sicher zu sein, ob er seine Worte für einen Scherz halten sollte. „Was willst du denn stattdessen? Eine Diktatur? Es kann doch wohl nur am gerechtesten sein, wenn die Mehrheit regiert.“ „Wirklich? Schau dir die Mehrheit der Menschen an. Die Mehrheit liegt auf dem Sofa, lässt sich von ihren Lieblingsinfluencern die neusten Trends setzen und denkt ungefähr bis zum nächsten Feierabend. Die Mehrheit kennt sich mit Automarken besser aus als mit den Parteien in unserem Bundestag. Womit verdient die Mehrheit das Recht über eine Zukunft zu entscheiden, die sie überhaupt nicht interessiert?“ „Und deswegen willst du ihnen das Wahlrecht nehmen?“ „Wenn ich ganz ehrlich bin? Ich höre, wie Menschen mit den unvernünftigsten Argumenten gegen die vernünftigsten Entscheidungen demonstrieren. Es käme mir falsch vor, ihnen dafür das Wahlrecht zu entziehen. Aber es macht mir auch Angst, es ihnen zu erlauben. Es macht mir Angst, unsere Zukunft in die Hände einer Masse zu legen, die mich selber an der Demokratie zweifeln lässt.“ „Aber was die Demokratie kaputt macht, bist doch du, wenn du so denkst.“ „Das weiß ich ja. Das weiß ich. Und denk nicht, dass ich mich nicht dafür schäme. Aber genau da liegt die Krux. Je mehr ich mich schäme, desto mehr fürchte und verabscheue ich eine Mehrheit, die mich so denken lässt. Wer hat die Diktatoren dieser Welt denn gewählt? Oft genug die Mehrheit.“ „Und dann lieber gleich Diktatur?“ Yaren schwieg. „Ich weiß es nicht. Ich kenne keine guten Diktaturen. Aber angenommen, ihr wärt Alleinherrscher. Keine Gremien, die euch zustimmen müssen. Alle Macht ruht auf euren Schultern. Was würdet ihr entscheiden? Sagt mir nicht, dass die Vorstellung nicht verlockend ist. Und zwar nicht, weil alles euch gehört, sondern weil ihr die Möglichkeit habt, alles besser zu machen. Ihr könnt gerechte Löhne einführen, Tempolimits, verbesserten Datenschutz, ihr könnt das ganze Internet von Hasskommentaren bereinigen lassen und Massentierhaltung verbieten. Stellt euch vor, jemand wie ihr wäre Diktator ...“ „Das würde vielen nicht gefallen“, bemerkte Katja, „Und sie hätten kein Recht, das zu sagen?“ „Du bist nicht gezwungen, es ihnen zu verbieten.“ „Warum machen es dann alle Diktatoren?“, fragte Noah, „Alle Diktatoren haben die Meinungsfreiheit eingeschränkt und keiner hat die Massentierhaltung verboten. Wieso glaubst du, ist das so?“ „Das habe ich mir auch gesagt. Aber denkbar wäre eine gerechte Diktatur zumindest. Denkbar wäre eine Diktatur, die viel besser funktionieren würde als die Demokratie und es ist immer leicht, zu sagen, dass eine Möglichkeit nicht funktioniert, weil sie noch nicht aufgetreten ist. Zu leicht, um mich zu überzeugen. Ich sage es noch mal: Ich will euch doch glauben. Ich führe diese Diskussion nur, weil ich hoffe, sie am Ende zu verlieren. Wenn ihr es irgendwie könnt, dann widerlegt mich.“ Eine Pause trat ein. Yaren blickte hinauf zu den Fahnen, die im Wind flackerten wie Feuer. Hinter ihnen in der Stadt glühten wie Funken die Lichter. Der Feierabendverkehr ließ nach und die Gemütlichkeit erleuchteter Fenster kehrte in den Straßen ein. Hochhäuser aus mehr Wohnungen und mehr unterschiedlichen Leben, als jemand sich vorstellen konnte. Straßen knüpften sich zu einem dichten Netz, Brücken schwangen sich über die Spree. Das Tag- gab dem Nachtleben die Klinke in die Hand. Vanessa stieg in die Bahn Richtung Bernau. Fröstelnd schüttelte sie die abendliche Kälte von sich. Der Wagen war mäßig voll. Leere Blicke, die an der Welt vorm Fenster hingen oder an Displays, die sie die Welt eine Weile vergessen ließen. Vanessa setzte sich auf einen freien Platz und zog ihr eigenes Handy aus der Tasche. Tausend Posts, tausend Nachrichten in den wenigen Sekunden, die ein Mensch brauchte, um eine Bahn zu betreten. Die wenigsten davon sagten mehr, als dass sie wütend waren. Warum macht es dir Spaß, sie zu lesen? Es war nicht so, dass sie sich die Frage nicht stellte, während sie durch den bissigen Spott der Netzwerke scrollte. Es war nicht so, dass die Antwort sie nicht interessierte. Es war nur so, dass eine zweite Frage lauter wurde, bevor die erste zu einer Lösung fand: Warum stellst du dir die Frage? Niemand fragte sich, was Menschen an Boxkämpfen, Ringen oder Hahnenkämpfen interessierte. War es nicht ein Fortschritt, wenn sich Gewalt verbal im Netz entlud? Meinungsfreiheit. Das war eben Meinungsfreiheit. Vanessa mischte sich in Diskussionen nicht ein. Sie bevorzugte es, die Eskalation von weitem zu beobachten. Es war wie kultivierter Katastrophentourismus. Sauberer als die Jagd nach einem Tornado. Keine Verletzten, keine Toten, aber die Gesellschaft schenkte einer beleidigten Seele inzwischen mehr Aufmerksamkeit als einer gebrochenen Nase. Schlägereien, Gebrüll, das war die primitive Sprache der Wut. Schrift war ihr feineres Instrument. Wer konnte nicht mit dem Internet umgehen? Waren es wirklich die Hater oder die labilen Gestalten, die es nicht schafften, ein Handy auszuschalten, wenn es ihnen besser getan hätte? Hass gehörte zur Menschheit wie Trauer oder Ekel. Nur seine Form änderte sich und das schien einigen Angst zu machen. Glaubten Politiker, ihr Volk hätte vor dreißig Jahren nicht dasselbe gesagt, was es ihnen jetzt unter ihre Posts warf? War es falsch, wenn jeder eine öffentliche Stimme hatte? Das ist Meinungsfreiheit. Das größte Maß an Meinungsfreiheit und ausgerechnet diejenigen, die sich für besonders gewissenhafte Demokraten halten, kommen damit nicht zurecht. Die bissigste Spötterin ist und bleibt die Wirklichkeit. Maya versuchte, ruhig zu atmen. Sie versuchte, nicht auf ihr pochendes Herz zu achten. Das beunruhigte sie nur. Ein Herz war so ein verletzliches Ding. Kein Organ bot mehr Widerstand als die Haut einer Nacktschnecke. So viel Blut in einem Menschen und nur ein einziger Muskel musste ausfallen, damit jedes dieser empfindlichen, wurmweichen Bauteile in Sekundenschnelle verendete. Die Vorstellung ließ sie würgen. Maya stand im Bad vorm Spiegel. Mit geschlossenen Augen. Sie ertrug es nicht, sich anzusehen. Abfall! Abfall bist du! Und was passiert mit Abfall? Am liebsten hätte sie sich auf der Müllkippe entsorgt, um jemand anderes sein zu dürfen. Das halbe Land kannte bestimmt schon ihr Gesicht, ihren Namen, ihre Adresse. Wie viele Einwohner hatte Deutschland noch mal? Ach was, Deutschland. So ein Post konnte doch um die ganze Welt gehen. Als ob sich irgendjemand im Ausland für eine kleine, deutsche Politikerin interessiert. Und wenn doch? Es war die Unsicherheit, die Angst vor dieser winzigen Chance, dass es passieren könnte. Was sollte sie machen? Sich verstecken? Wo? Welcher Ort, an dem sie absolut niemand kennen konnte? Wer wusste denn, was diese Hater anstellten? Ihre Netzwerke durchseuchten das Internet wie Schimmelsporen. Hatten sie einem ihren Shitstorm vor die Füße gespuckt, war es wie eine Reviermarkierung für die restliche Meute. Sie teilten Bilder, rissen Sätze aus dem Kontext und entstellten dich, bis du dich selbst nicht mehr in dem wiedererkanntest, was die Welt von dir hielt. Ruhig atmen. Ruhig atmen. Zitternd sank sie auf den Boden. Das Bad hatte kein Fenster. Niemand konnte sie sehen. Absolut sicher. Zu was konnte man verkommen? Zu was konnten Worte einen machen? Diese leeren Accounts, hinter denen ab und zu nicht einmal Menschen steckten. Hinter einigen doch. Hinter manchen stecken Menschen, die sich einen Dreck um dich scheren. Mit einem Hass, vor dem Maya selbst erschrak, dachte sie an jene Menschen. Wie sie jetzt vor ihren Handys, Computern und Fernsehern saßen. Sie schauten Filme und gingen dann ins Bett. Sie trieben andere in den Selbstmord und starben am Ende ihres Lebens mit reinem Gewissen. „Ich bin nicht der Ansicht, dass Kunst alles darf.“ Cem überquerte den Alexanderplatz, an seinem Ohr ein altmodisches Tastenhandy. „Dafür ist Kunst da“, quäkte es aus dem Lautsprecher, „Kunst soll provozieren. Sie soll zum Nachdenken anregen.“ „Wirklich? Ist es in dieser Zeit nicht die größte Kunst, niemanden zu provozieren? Ich sag dir: Brände haben wir da draußen genug. Ein bisschen Feuer hält den Verstand wach. Aber es gibt eine Zeit, um Öl in die Flammen zu gießen und es gibt eine Zeit, die Wasser braucht. Lass uns die Inszenierung noch mal überdenken.“ „Sollen wir etwa vor genau denen einknicken, die daran schuld sind? Sollen wir uns von diesen Brandstiftern jetzt auch noch unsere Kultur diktieren lassen? Dann aber gute Nacht, Deutschland.“ „Merkst du nicht, wie wir denen in die Hände spielen, indem wir sie angreifen? Die wollen sich doch als Widerstand fühlen. Machen wir sie einfach nicht dazu.“ „Mach ich auch nicht. Denn wir sollten deren Widerstand sein. Stattdessen kriechen wir denen in den kackbraunen Arsch!“ „Klasse. Wir benehmen uns lieber auch wie die Kleinkinder, anstatt zu zeigen, wie es vernünftig laufen kann. Es geht hier doch nicht um Wiederstand oder keinen Widerstand. Es geht um das Ziel, das wir damit erreichen. Immer noch mehr Dreck in die Schlammschlacht werfen. Soll das unsere Zukunft sein?“ „Wo siehst du unsere Zukunft denn?“ Cem seufzte und merkte, wie seine Finger instinktiv nach der Zigarettenpackung in seiner Tasche tasteten. Er dachte, er hätte sich das abgewöhnt. „Auf dem Friedhof“, antwortete er leise genug, um durchs Telefon nicht verstanden zu werden. „Manchmal sehe ich sie nur noch auf dem Friedhof.“ Seine Finger flitzten über die Tastatur. Es war nicht verboten. Er tat, was jeder tun konnte. Um dich ist es auch nicht schade, wenn dich der IS in die Luft sprengt, du Opfer. Tut mir den Gefallen und sterbt alle als Märtyrer eurer linken Multikulti Ideologie. Sascha82 schickte den Kommentar ab und lehnte sich zurück. Der Mann im Video betete weiter brav seine Parolen gegen Rassismus runter. Sollte er. Unter Saschas Kommentar plinkten schon die ersten Likes. Weitere Kommentare folgten. Von spitzem Sarkasmus bis zu stumpfen Drohungen war alles dabei. So funktionierte moderner Wahlkampf und nur um den Sieg ging es dabei. Der Inhalt des Videos war unwichtig. Wichtig war, dass es von einem Gegner kam. Jedem Troll ihrer Armee war das klar. Im Krieg waren alle Mittel erlaubt. Selber schuld, wenn die links-grünen Spacken keinen Gebrauch davon machten. Tja, wenn andere sich beim Fahrradfahren die Augen zubinden, bin ich dann unfair, wenn ich auf den Verkehr achte? Sascha82 schämte sich nicht. Das hier war Routine. Die Pflicht eines guten Soldaten. „Heut zu Tage darf man doch gar nichts mehr sagen. Was schaust du so? Seien wir ehrlich: Alle denken es und kaum einer traut sich, es auszusprechen.“ Kai öffnete sich eine Cola. „Kein Wunder. Weil nur Vollidioten vom rechten Rand die Gegenpositionen zum linken Mainstream gekapert haben. Und jetzt will keiner mehr deren Meinung sein. Versteh’n kann ich‘s. Aber muss da nicht jemand mutig sein?“ Lasses Mundwinkel zuckte undefinierbar. Die beiden Brüder saßen auf dem Balkon und schauten dem Himmel beim Dunkler- und der Welt darunter beim Hellerwerden zu. Berlin glich einem Feld funkelnder Edelsteine. Ketten aus Gold, Setzkästen voller Quarzwürfel. Im gegenüberliegenden Hochhaus ließen sich die Silhouetten von Menschen beobachten wie eingeschlossene Insekten. Die Partymeile war eine Schlucht auf deren Grund Saphir und Spinell glitzerten. Karneol glühte neben strahlendem Topas. In der Spree trieb das Licht wie in einem fließenden Spiegel. „Da muss doch jemand mit der Faust auf den Tisch hauen und sagen, dass es so nicht weiter geht“, brummte Kai, „Wir können doch nicht zu einem politischen Inselstaat zerfasern, auf dem du nur noch sagen darfst, was deine kleine Sandbank hören will. Und wehe du stehst zwischen den Inseln. Wer dazwischen steht, fällt ins Wasser. So ist es doch. Sei ehrlich.“ „Was willst du machen?“, brummte Lasse. „Weiß nicht, aber wir können die Debatte doch nicht den Trotteln überlassen. Ich kenn da Blogs, die beschreiben dir haarklein, wie du Schwarze, Frauen und Homos mit Samthandschuhen anzufassen hast und schreiben auf der gleichen Seite, dass es voll okay ist, weiße Männer zu beleidigen, weil die sind ja nicht marginalisiert, oder wie das heißt. Muss doch noch ‘ne Möglichkeit geben, dagegen zu sein, ohne dass du gleich dafür bist, alle Flüchtlinge abzuschieben und so.“ „Moderat ist halt nicht mehr hip“, meinte Lasse, „Glaub allerdings, die meisten Menschen sind‘s immer noch. Also kein Grund zur Sorge. Moderat fällt bloß nicht so auf. Darum haben alle das Gefühl, ganz alleine in der Mitte zu stehen.“ „Kann man nur hoffen.“ Kai reichte seinem Bruder eine zweite Flasche. Jan blockte den Account. Miri_der_Zwerg: Ich finde gendergerechte Sprache grundsätzlich gut, aber ... Jan blockte den nächsten Account. Das Thema war nicht diskutabel. Selfcare. In den Netzwerken herrschte ein raues Klima. Wer seine Bubble nicht reinhielt, konnte schnell unter konservativem Müll ersticken. Mit denen lohnte sich die Auseinandersetzung sowieso nicht. Null Toleranz für rechts. Wer Frauen sprachlich ausschloss, hatte Jans Energiereserven nicht verdient. Ich bin ja grundsätzlich deiner Meinung ... So fingen sie alle an. Dann kam das Aber und dahinter entpuppten sich die User*innen doch als Nazi. Durfte er solche Leute nicht Nazi nennen? Sie waren eben welche. Sie begriffen es bloß nicht. Das war das Schlimme. Obereinhorn: Aber wenn du eh alle blockst, die nicht 100 % deiner Meinung sind, was bringt es dir denn dann, deine Meinung zu schreiben, wenn sie nur von Leuten gelesen wird, die das sowieso denken? Jan blockte den Account. Lieber Gott, Der Kugelschreiber kratzte auf dem Papier eines Notizblocks. Ich war mir nie sicher, ob ich an dich glauben kann. Wenn ja, dann bist du eine abstrakte Gewalt für mich, die sich so wenig anfassen lässt oder mir zuhören kann wie die Physik. Ich weiß nicht, warum ich dir schreibe. Wahrscheinlich, weil sonst auch niemand zuhört. Ich habe der Welt so viel zu sagen. Ich sehe so viel Ungerechtigkeit, Feindschaft, Vorurteile, Intoleranz und Unverständnis in unserer Gesellschaft und ich weiß, dass meine Ideen etwas bewirken können, selbst, wenn sie vielleicht nicht den ganzen Planeten retten. Ich habe es versucht. Aber wo lässt sich noch sachlich über Ideen reden, wenn sogar diejenigen, die wie du für eine bessere Welt zu kämpfen meinen, eigentlich nichts ändern, sondern nur recht haben wollen? Wo wird Vernunft nicht zwischen Extrempositionen zerfetzt, von Häme zertreten und zur Unterhaltung aufbereitet? Wo in dieser Gesellschaft suchen die Menschen ernsthaft nach gedanklicher Tiefe unter dem Entertainment? Ich habe den Eindruck, die Kinos machen nur deshalb so schlechte Einnahmen, weil die politische Eskalation zum neuen Kino geworden ist. Und weil das so ist, kippen diejenigen, die nichts davon verstehen, Spiritus ins Feuer. Nicht, weil sie sich plötzlich für unsere Zukunft interessieren, sondern, weil sie ihr gerne beim Brennen zuschauen. Es ist wie beim Rugby: Ein Knäul aus Menschen liegt am Boden und der Ball ist längst weggerollt. Aber die Vernünftigen trauen sich nicht, ihn aufzuheben aus Angst, als nächstes unter dem wilden Haufen begraben zu werden. Das soll heute Politik sein? Das nennen sie Meinungsfreiheit? Wenn jene, die wirklich etwas zu sagen haben, es nicht mehr sagen können, weil andere lauter schreien? Einen Staat, in dem nur die Stärksten gewinnen, nenne ich Barbarei. Einen Staat, in dem nur die Lautesten gewinnen, ebenfalls. Ja, wir verkommen zur Barbarei. Im Namen der Freiheit. Die Tabletten schmeckten bitter. Sie schmeckten genau, wie man sich den Tod vorstellte. Sollte er? Ein kurzes Zögern. Ein kurzer, unabsichtlicher Blick auf die Fotos an seiner Pinnwand. Seine Eltern. Nikolas. Hand in Hand mit ihm an der Spree. Als noch alles gut gewesen war. Tut mir leid, Nik. Ich habe mein Bestes gegeben. Aber die Welt lässt sich nicht besser machen. Die Welt macht dich nur schlechter, wenn du dich zu tief mit ihr beschäftigst. Er griff nach dem Wasserglas. Yaren stand immer noch auf der Wiese. Die Sterne auf der Europafahne verblassten im Dunkel der Nacht. Der Himmel zeigte auch keine. Die Lichter der Stadt waren zu hell dafür. „Ich habe Angst, dass die Meinungsfreiheit an der Meinungsfreiheit zu Grunde geht“, meinte er, „Nein, eigentlich habe ich keine Angst vor der Meinungsfreiheit. Eigentlich habe ich Angst vor den Menschen.“ Quellen: Beim Verfassen des Textes wurde sich um die Abbildung eines möglichst breiten Meinungsspektrums bemüht. Zur Orientierung wurden folgende Quellen herangezogen: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/angst-vor-hetze-im-internet-hat-folgen-fuer-meinungsfreiheit-15832646.htmlhttps://www.iwd.de/artikel/interview-ein-mensch-kann-jederzeit-in-eine-meinungsblase-abdriften-511162/ https://www.youtube.com/watch?v=nAd87WiKZnA (interessant sind auch die unter der Dokugeposteten Kommentare) https://www.sueddeutsche.de/bayern/hate-speech-internet-hass-hetze-georg-eisenreich-verfahren-1.5545841 Und persönliche Erfahrungen. ----------------------------------------------------------------------------------------------------------- Gewinnertext Sonderkategorie Ich meine was, was du nicht meinst – Poetryslam (Clara Lösel) (Anmerkung: Als literarisches Genre macht Poetryslam vor allem laut gelesen Sinn.) Ich meine was, was du nicht meinst, Und das ist weiß. Für mich sieht die Wolke wie ́n Drache aus Und für dich wie ein Eis. Und das ist okay. Ich meine was, was du nicht meinst, Und das ist pink. Ich bin politisch eher Mitte Und du bist eher links. Und das ist okay. Ich meine was, was du nicht meinst, Und das ist grün. Ich poste gerne viele Bilder Und du bleibst lieber anonym. Und das ist okay. Ich meine was, was du nicht meinst, Und das ist schwarz. Ich magst Hunde und hör gern Klassik, Du magst Katzen und hörst Charts. Und das ist okay. Ich meine was, was du nicht meinst, Und das ist braun. Ich glaube an Gott, du glaubst an Allah. Beide haben ihren Raum. Und das ist okay. Ich meine was, was du nicht meinst, Und das ist grau. Ich hab dich immer als Mann gesehen. Du selbst siehst dich als Frau. Und das ist okay. Ich meine was, was du nicht meinst, Und das ist blau. Ich finde einen Politiker inkompetent. Und du, du findest ihn schlau. Und das ist okay. Ich meine was, was du nicht meinst, Und das ist gold. Du hättest lieber keine Sommersprossen. Ich hab die immer gewollt. Und das ist okay. Ich meine was, was du nicht meinst, Und das ist gelb. Ich geh demonstrieren und du bleibst zu Hause, Jeder, was er für das Richtige hält. Und das ist okay. Ich meine was, was du nicht meinst, Und das ist rot. Ich finde, Liebe kann alles sein, Und du – du findest das doof. Und da hört Freiheit für mich auf, Weil sie nur so weit reicht Bis sie die Freiheit von anderen berührt, Weil Gleichheit keiner Freiheit weicht. Ich meine was, was du nicht meinst, Und das ist rot. Manche Menschen sind wegen Meinungen anderer Menschen tot. _____________________ Ich meine was, was du nicht meinst. Und das ist auch okay. Weil was du meinst nicht das sein muss, Was ich genauso seh. Weißt du, wir sind alle anders, Und weißt du, wär ich du, Mit deinem Leben und deinen Gefühlen, Würd ich vermutlich das Gleiche tun – und meinen. Und weißt du, nur weil du und ich Verschiedene Dinge mein ́ Heißt das nicht, wir können nicht reden Oder Freunde sein. Weil ich bin ich Und du bist du. Ich öffne mein Kopf Und ich hör dir zu. Ich will verstehen, was du meinst, Auch weil ich davon lerne, Und jedes Mal, wenn wir reden, Entsteht ein bisschen weniger Ferne. Und weißt du noch was? Ich bin stolz, Dass ich eine Meinung habe. So stolz, dass ich sie Wie eine Krone trage. Und dass ich sie halte und dass ich sie ändere, Weil es nicht mehr genug ist zu meinen. Man muss auch reden und handeln, Auch wenn Dinge verloren scheinen. Vielleicht gerade dann. Weißt du: Gerade ist keine Zeit Für Meinungen, die leise sind. Keine Zeit zum Schweigen, Wenn man merkt, dass was nicht stimmt. Keine Zeit zum Stillhalten, Kriege toben, die Erde brennt. Tiere sterben, Menschen fliehen. Gerade ist die Zeit, die drängt. Gerade ist die Zeit zum Meinen, Zum seine Meinung sagen. Zum Widerworte geben. Zum kritisch hinterfragen. Zum Dinge selber machen. Zum neue Dinge wagen. Zum einen Lautsprecher Statt einem Maulkorb tragen. Gerade ist die Zeit der Mutigen Und nicht die für die Feigen. Zeit um seine Meinung Mit Trompeten und Posaunen zu geigen. Weißt du: In einer Zeit, wo Meinungsfreiheit In so vielen Ländern Auf der Kippe steht kann ich nicht sagen, ich kann nichts ändern. Und ich geb dir ein Versprechen, Für mich und diese Erde, Dass ich jeden Tag ab jetzt Meine Meinung leben werde. _____________________ Ich meine was, was du auch meinst Und was auf ewig währt: Jeder Mensch hat seine Meinung Und jeder Mensch ist gleichviel wert. Ich meine was, was du auch meinst, Und das ist verdammt wichtig: Nur, weil ich was meine, Heißt das nicht, es ist für dich richtig. Und andersrum. Und weißt du, da ist diese Freiheit, Ein Gefühl von Dankbarkeit, Ein Gefühl von Mut und Demut, Das mir dieses Wissen leiht. Dass ich meine habe Und du deine. Das ist die Freiheit, Die ich meine.     Gewinnertext Sonderkategorie Menschen aller Nationen, hört meine Rede! © Jacqueline Roussety, roussety@gmx.com Eine junge Frau betritt den Vorraum einer Moschee. Sie hält inne, lässt ihren Blick durch diesen stillen Ort wandern. Sie redet leise mit sich selbst, einem Zwiegespräch gleich. Ein Lächeln zeichnet sich auf ihren Lippen ab. Sie wendet sich dem Publikum zu. Selam-aleyküm. Shalom. Grüß Gott. Salom. Hallo, ich bin ... ach ..., nennt mich wie ihr wollt. Mein eigener Name tut hier nichts zur Sache. Begleitet mich für geraume Zeit, und ich erzähle euch über eine Schattenexistenz, in der eine Frau ihr Menschsein verloren hatte und sich dieses, Schritt für Schritt neu eroberte. Die junge Frau hält inne, nimmt ihren Rucksack von den Schultern. Vor dreißig Jahren wurde eine Mehtap in Deutschland geboren. Somit ist sie eine Deutsche mit türkischen Wurzeln. Durch ihre Religion bekennt sie sich als Muslimin, denn sie glaubt an die Lehren von Mohammed, dem Propheten, und ist demzufolge eine Mohammedanerin. Die junge Frau zieht am Eingang ihre Schuhe aus, stellt diese ins Regal und betritt durch eine Tür den kleineren von zwei Gebetsräumen, der schlicht eingerichtet ist. Nach alter Tradition sind Männer und Frauen während des Gebetes getrennt. Ich weiß, nicht selten löst das Wort Islam eher Unbehagen aus. Angst. Unsicherheit. Wir alle erinnern uns doch an Hatun Sürücü aus Berlin, ermordet von ihrem eigenen Bruder, ein sogenannter ‚Ehrenmord‘, haben Mahsa Anunis schönes Gesicht vor Augen, ein junges Dasein – brutal ausgelöscht. Für eine Haaresbreite Freiheit. Frau! Leben! Freiheit – Tod. Alles blickt im Moment nach dem Iran. Gespenstische Bilder einer lebenshungrigen Generation, die ihr Recht auf freie Gedanken mit dem Leben bezahlt. Reingeboren in eine diktatorische Herrschaft wanken sie taumelnd durch eine permanent bedrohte Existenz, die ihnen wie ein paar faulige Brotkrumen hingeworfen wurde. Nichtsdestotrotz, sie alle sind auf der Suche nach ein wenig persönlichem Glück, getrieben von Wut und Bitterkeit, erniedrigt durch permanente Angst, bis nur die Isolation oder der Tod einem winkt. Dort, allerdings auch in Afghanistan, in Afrika – ach, diese lähmende Ohnmacht! Die junge Frau zieht einen Gebetsteppich aus dem Rucksack hervor und rollt ihn vor sich aus. Glaubt mir, dieses Gefühl der Ohnmacht trug sie, Mehtap, jahrelang mit sich herum. Verschlossen, verheimlicht. Oft hat sie als Kind gelitten, nächtelang geweint und vieles runtergeschluckt. In ihrer Entwicklung gefangen hinter einer Mauer des Schweigens, einem dicht gewebten Schleier, der eine eigene Identität, eine persönliche Überzeugung nicht zuließ, nicht gewährte. Manches hat sie später im stumpfen Dasein runtergespült. Der verbotene Alkohol der Ungläubigen wurde für geraume Zeit ihr einziger und heimlicher Freund. Und immer wachte als stetige Begleitung diese bohrende Einsamkeit an ihrer Seite, die sie fast verrückt machte. Mutterseelenallein in einem Land mit Millionen von Menschen. Keinem konnte sie ihre Ängste und Probleme anvertrauen. Bei niemandem traute sie sich offen ins Gesicht zu schauen, um vielleicht einen Hauch Nähe und Halt in verständnisvollen Augen zu finden. So blieben viele Fragen und wirre Gedanken, die Mehtap nicht begriff, in ihr verschlossen. Ihre Sprache fror allmählich fest, taute wieder auf, verwandelte sich zu Stein und oft glaubte sie, für den Rest ihres Lebens zu verstummen. Mehtap sah die anderen Menschen sehr wohl reden, doch eine Brücke war zerbrochen und deren Worte drangen nicht zu ihr herüber, verloren sich in eisigen Fluten. Ihre stummen Hilferufe fielen ebenfalls ins tiefe Wasser und erreichten nie einen Menschen. Wie ein Fährmann versuchte sie, das Meer der Sprache zu überqueren. Je schneller sie ruderte, umso einsilbiger wurde sie. Der Versuch, in einen Dialog zu treten, endete immer in einen inneren Monolog. Die junge Frau holt aus dem Rucksack ein farbiges Kopftuch, bedeckt sorgfältig ihre Haare. Sie zieht ein Taschentuch aus der Jeans, wischt sich die letzten Spuren des Lippenstiftes von den Lippen. Ja, da schaut ihr. Auch sie hat ihn zu spüren bekommen, den täglichen Rassismus. Aber anders als ihr denkt. Sie hat ihn erlebt unter ihresgleichen. Nicht nur ihr Christen und Juden leidet unter der Schreckensherrschaft des Islams, auch viele Muslime selbst. Vor allem die Frauen. Tagtäglich versuchen sie, ihr blutendes Herz zu stillen, bis sie irgendwann keinen Tropfen mehr in sich spüren und innerlich ausgetrocknet ihr Ende erwarten. Es wird wohl noch viele Mahsas und Hatuns geben müssen, damit wir endlich unsere Gedanken frei aussprechen können. Es wird leider auch in Zukunft weiterhin viel Blut fließen, bevor die Meinung von Frauen in einem diktatorisch geführten Land, Gehör finden darf. Aber, ich will nicht das große Ganze anklagen, nein, schauen wir erst einmal dorthin, wo eigentlich Schutz und Liebe die Grundpfeiler eines jeden jungen Lebens sein müssten. Der Nährboden für eine freie wie auch gesunde Entwicklung. Die Familie. Was im Makrokosmos tagtäglich geschieht, das spiegelt sich auch hier wider: Gewalt, Unterdrückung, Ausgrenzung und den Schleier nicht nur vor das Antlitz gezogen, sondern ebenso vor die geschundene Seele. Die junge Frau verneigt sich im Stehen gen Osten. Mehtap ist eine der wenigen, die es geschafft hat. Sie ist ausgebrochen aus einem Käfig, aus einer zerklüfteten Seelenlandschaft, aus einer Welt, die sie als eigenständige Persönlichkeit mit einem freien Willen nicht duldete. Ihr eigene Gedanken nicht zubilligte, eine subjektive Meinung nicht gewährte. Eine Welt, die Mehtap nach Jahren der Unterdrückung nicht mehr aushielt. Es gab Zeiten, da hat sie unseren Glauben gehasst, verflucht. Verzeih mir Allah, wenn ich sündige. Verzeih mir. ALLAH U AKBAR. Die junge Frau kniet sich hin, berührt mit der Stirn den Teppich, richtet ihren Oberkörper wieder auf und hebt die Hände zum Gebet. Ich muss es loswerden. Ein Familiendrama. Eine dieser Geschichten, die sich tagtäglich auf der ganzen Welt abspielen, mit äußerst brutalen Regeln. Viele Episoden werden geduldet, nicht bemerkt, oder die Augen der NachbarInnen und der Familie schauen einfach weg. Die Menschen verschließen sich oft vor dem Unfassbaren. Damit scheint das Unfassbare so angenehm ausgelöscht. Wie, als ob der Tag seine Normalität behält. Wie, als ob die lautlose Nacht im traumlosen Schlaf versinkt. Das Wegsehen allerdings trägt nur eine dünne Maske. Tief im Inneren, in den unendlichen Kammern des Unterbewusstseins können diese Bilder nicht auf ewig verdeckt werden. Werden diese Schreie von Schmerzen und Todesängsten nicht gänzlich verstummen. Nicht immer lassen sich die Sinne täuschen oder überlisten. Die Mauer des Schweigens weist irgendwann erste Risse auf. Und wie die aufbäumende Natur, zwingt sich die Pflanze der Wahrheit durch kleinste Lücken. Und wächst. Bis sie eines Tages nicht mehr zu übersehen ist. Und die Mauer zerbirst in tausend Stücke. So eine Pflanze ist auch Mehtap. Die junge Frau streicht sich über die Augen, murmelt leise vor sich hin, bevor sie von Neuem die Stimme erhebt. Ihr Vater schleppte sie und ihre Geschwister jahrelang in eine Moschee, gebaut in einer deutschen Kleinstadt. Oft beschleicht mich das Gefühl, dass wir uns hier türkischer geben als in der Türkei. Nicht selten lacht man dort über uns. Die, die es im eigenen Land nicht geschafft haben. So bauen sich die Emigrierten verzweifelt eine neue Existenz auf fremden Boden auf. Dennoch fühlen sie sich wie eine falsch umgetopfte Pflanze; aus ihrem Nährboden herausgerissen und Teile der Wurzeln faulen in der zurückgelassenen alten Heimat. Die junge Frau richtet sich auf, kommt einige Schritte näher und blickt ins Publikum. Und plötzlich bist Du hier – In der neuen Welt, So anders als die, die Du geliebt hast. Angst, Zweifel aber auch Depressionen Zehren an deinem Selbst. Ich weiß gar nicht, Ob Du noch lebst, Oder, nur in einem dunklen Vakuum Vor Dich dahinvegetierst. Deine Erinnerungen – In leuchtenden Farben. Noch können diese Dich am Leben erhalten. Etwas von jenem Sonnenschein Dir schenken, Den jeder von uns doch so sehr braucht. Hier bist Du also, Augen voller Träume, Dir selbst fremd geworden. So wanderst du durch dunkle Wälder, Ziellos umherstreifend. Da keimt es auf. Ein Glücksmoment. Allein mit Deinen Träumen. Und niemand kann diese zerstören. Bäume schützen Dich Vor fremden Blicken. Der Boden unter Deinen Füßen Weist dir einen neuen Weg. Du zögerst oft, Welche Richtung Du wählen sollst. Wirst Du jemals eine neue Heimat finden, In der all das, Was in Deinen Träumen lebt, Sich erfüllen wird? Die junge Frau kehrt zu ihrem Gebetsteppich zurück und kniet sich wieder hin. In der Fremde verengt sich der Blick, alles wird extremer: das Abgrenzen von den Ungläubigen, das Folgen strenger Regeln nach dem Koran, einfach das ganze undurchschaubare Leben mit all seinen kleinen Alltäglichkeiten. Denn laut unseren Geboten ist einer der Elternpflichten, den islamischen Glauben ihren Kindern beizubringen. Weiterzugeben. Wie ein vertrautes Ritual, das sich von Generation zu Generation die Hand reicht. Weißt du Allah, viele Eltern vergessen, die folgenden Sätze zu lesen, die da heißen: „So beizubringen, dass sie mit Leib und Seele dabei sind.“ Und nicht nur ... . Halt. Ich greife vorweg. Ich muss mich zwingen, nichts auszulassen. Jetzt zu sprechen. Auch wenn es schmerzt. Allah, ich glaube, ihre Eltern hatten ein Abkommen mit dir. „Wir opfern dir die Seelen unserer Kinder und du gibst uns dafür westlichen Wohlstand.“ War es das, was sie dermaßen verblendete? Die junge Frau springt auf, rennt ziellos umher, nach geraumer Zeit nähert sie sich wieder dem Publikum. Denn Kinder, Die sind wie Blumen! Gibt man ihnen viel Wärme, Kraft und – Zeit, So blühen sie auf. So wunderbare Geschöpfe. Diese Seelen erfreuen und bereichern uns, Mit ihrer Schönheit. Mit ihrer Ausstrahlung. Kaum wagt einer, sie zu pflücken. Diese kostbare Reinheit könnte sehr wohl zerstört werden. Die zarten Farben und wiegenden Bewegungen. Sie sind so rar, Vom Aussterben bedroht. Dennoch, Einige werden gepflückt, Gebrochen, Zertreten. Die aufkeimende Knospe der Seele, Zerstört. Für immer. Meistens ziehen dunkle Wolken vorbei, Die Wärme erlischt. Die Kälte des Todes gefriert alles. Diese so einst wunderbare Blüte Verwelkt, Stirbt ab, Bekam nie die Chance in ihrer vollen Pracht Sich zu zeigen. Zu viel Kälte ließ alles Leben erstarren. Sie dursteten nach dem Sonnenschein Und gingen zugrunde. Für immer. Und, Was macht ihr? Schaut zu, Bemerkt nicht einmal die Qualen. Die junge Frau dreht sich abrupt um, geht ein paar Schritte hin und her, hält inne und blickt über die Schulter. Ach, irgendwie besitzen alle Religionen doch etwas Gemeinsames. Ab einem gewissen Zeitpunkt, bei dem nur noch Dogmatismus und religiöser Fanatismus vorherrscht, ist der Glaube auch gleichbedeutend mit Macht. Mit Macht über Leben und Tod. Und der Mensch an sich verschwindet hinter steinernen Gesetzen. Das Recht, ein Mensch sein zu dürfen, wird vergraben unter der Last von Drohungen und Irrglauben. Einen freien Gedanken zu äußern, seine Ansichten kundzutun – ach, schon im Keim erstickt. Und zurück bleibt eine erschöpfte Seele, die ein Selbst, ein Ich, tief in den Kammern des Unbewussten verloren hat. Aber wenden wir uns wieder Mehtaps Kindheit zu. Die junge Frau kehrt zu ihrem Gebetsteppich zurück, kniet sich hin. Mehtap lief komplett verschleiert herum, nie durfte sie eine Jeans ihr Eigen nennen, natürlich trug sie kein Make-up, sie besaß nichts. Nicht einmal einen persönlichen Glauben. Sie wurde reduziert auf verhüllte Haut, die gleichsam ihren Wundschmerz verdeckte, ihre Identität nicht preisgab. Darüber diesen entsetzlich sackartigen Mantel, der sie zu verschlucken drohte. Sie durfte nicht mit Männern sprechen, diese nicht einmal ansehen. Das galt auch für westliche Freundinnen. Diese stellten ebenso eine vermeintliche Bedrohung für ihr Leben und das ihrer Familie dar. Andere TürkInnen, die modern, selbstbewusst und aufgeschlossen sich gaben, sich selbstverständlich integriert hatten und in Frieden mit ihren deutschen NachbarInnen lebten, beide Kulturen wunderbar miteinander verbanden, wurden genauso geächtet. Mehtaps Familie führte ein unscheinbares, enges und abgekapseltes Dasein. Ein fremdartiger Kokon inmitten globaler Expansion. Dabei hatte sie sich bitte nur mit ihren Geschwistern abzugeben. Und – ach ja ..., immer schön die Jungfräulichkeit hüten und schützen. Hier verstummt die junge Frau, senkt den Blick und hält ihre Hände schamhaft vors Gesicht. Sie unterdrückt ein Schluchzen. Mit der Zeit beruhigt sie sich, starrt auf die Innenfläche der Hände, die auf den Knien ruhen. Leichte Spuren von verwischter Wimperntusche bilden ein abstraktes Muster auf heller Haut. Leider war, als sie die verlor, keiner da sie zu beschützen. Zu behüten. Mehtap hat es nie verstanden. Aber der Reihe nach. Ich greife wieder in den Lauf der Geschichte ein. Wie gern würde ich manche Etappen überspringen. Die junge Frau verschließt die Augen und schweigt für einen Moment. Natürlich bemerkte Mehtap den Unterschied zu den NachbarInnen, LehrerInnen sowie den MitschülerInnen. Sie hat diskutiert, gefragt, gelesen, bildete sich ein eigenes Urteil. Von ihrem Vater allerdings gab es nur Schläge, darauf folgten: Lügen, Streit, Ausreden. Bis – tja, bis der Tag kam. Er brannte sich in ihr Innerstes ein; einem Feuermal gleich. Mehtap war gerade sechzehn, da hieß es: Ab mit dir in die Türkei. Wohin? In die Türkei. Ein Schweigen beherrschte den Raum. Die Türkei kannte sie nicht. Da wartet dein Mann. Du heiratest. Es ist alles – arrangiert. Er heißt ... . Auch ihn kannte sie nicht. Nie gehört. Wieder ein Abkommen? Eine türkische Heirat für deutschen Wohlstand. Das kostete sie ihre bis dahin so behütete Jungfräulichkeit. Sie wird es nie vergessen. Die Hochzeitsnacht. Ihr Leben lang nicht. Das Fest ist nicht selten der Ort, an dem unliebsame Wahrheiten zutage treten. Ihre schmeckte recht bitter. Danach gab es keine Therapie, keine Gesprächsgruppen, in denen sie sich hätte, neu finden können. Neu schützen. Neu hüten. Das gibt es für uns nicht. Wir waschen uns am nächsten Morgen, sind um ein paar dreckige Erfahrungen reicher, und – schweigen. „Die Frau hat dem Mann untertan zu sein.“ So wird der Koran oft ausgelegt. Aber es stimmt nicht! Ich habe ihn gelesen, regelrecht studiert, das Buch meiner Ahnen, meines Volkes. Jahrelang. Es ist eine reine, menschliche und soziale Religion, der man aber immer wieder die Fratze des Bösen überstülpt. Leider auch von vielen Eltern. Die Suren des Korans sind suggestiv, auf verschiedene Art und Weise zu deuten. Und ja, auch unterschiedliche Auffassungen sind durchaus möglich und legitim! Aber Fehler und religiöser Fanatismus lassen sich wohl nie ganz vermeiden. Die junge Frau hält inne, seufzt auf, wischt mit der Hand über ihre Augen, als würde sie einen schlechten Traum beiseiteschieben. Verzeiht. Ich muss noch lernen, meine Rede in geordnete Bahnen zu lenken. Den Fluss nicht pausenlos zum Stocken zu bringen. Nur so ist es mir möglich, Mehtap eine Stimme zu leihen, damit sie zu euch sprechen kann. Denn die Worte haben letztendlich ihren Weg gefunden, einem jungen Bach gleich, der sich sprudelnd in die Natur ergießt. So klares Wasser, welches das Spiegelbild hell zurückwirft. Dieses Licht musste sich aber erst quälend durch die Dunkelheit hindurchkämpfen, sich Bahn brechen in einer zerklüfteten Seelenlandschaft, denn unser aller Leben wird vorwärts bestimmt, jedoch rückwärts erst verstanden. Mehtaps Ehe in dem abgelegenen Dorf, fern jeder Zivilisation, gestaltete sich von Anfang an als unerträglich. Fremde Menschen bestimmten gnadenlos über sie. Nur sie nicht über sich selbst. Mehtap fühlte sich wie eine ausgestopfte Puppe, die man aus einer Laune heraus abwechselnd in alle vier Ecken schleuderte, sobald die Lust zum Spielen nachließ. Oft hoffte sie, auf dem Boden liegen bleiben zu dürfen. Diese Gnade erwies ihr keiner. Körper und Psyche wurden missbraucht. Immer wieder. Wie ein Stück Vieh, das kurz vor der Schlachtbank noch einmal über den Hof gejagt wird. Langsam stumpfte ihr „Ich“ ab. Willenlos gefügig, dämmerte sie Tage und Nächte dahin. Sie hatte ihr Recht verloren. Ihr Recht, ein Mensch zu sein. Das stillgestellte Weibliche, das unter dem männlichen Blick konsumierbar gemacht und einverleibt wurde. Eines Tages stand sie am Brunnen, sah hinunter auf die glatte Wasseroberfläche, auf der ihr ein fremdes Gesicht entgegenstarrte; ähnlich das einer Totenmaske. Die zwei Seelenfenster erloschen, der Mund weit geöffnet, wie zu einem Schrei – doch es blieb seltsam still. Kein Ton war zu vernehmen; der Mund riss weiter auf, tote Augen verzerrten sich, aber – nur eine sonderbare Lautlosigkeit hielt sie fest umklammert; der Schrei nach Erlösung in einem unsichtbaren Kerker eingemauert. Da erwachte Mehtap und spürte einen Funken Lebenswillen. Sie zog die verhasste Hochzeitskette vom Hals und warf diese in den dunklen Brunnen. Sie versank sofort. Bis auf den Grund. Sie flüchtete heimlich aus der Türkei, zurück nach Deutschland. Mit nichts kam Mehtap hier an. Außer all diesen Erfahrungen, die sie im Gepäck ihrer Erinnerungen bei sich trug. Sie hatte gehofft, die Hölle hinter sich gelassen zu haben. Bis dahin wusste sie nur nicht, dass das Martyrium so grenzenlos schmerzhaft sein kann. Die junge Frau verstummt, streicht gedankenverloren über den Teppich. Sie sieht auf, versucht zu sprechen, aber ihre Stimme versagt. Sie räuspert sich, bevor sie weiterspricht. Mehtap wurde geächtet, gebrandmarkt, war die Schande der ganzen Familie. Die Tochter hatte die Familienehre aufs Tiefste beleidigt und beschmutzt. Eine islamische Frau verlässt ihren Mann nicht. Er bestimmt über sie, und damit auch über ihr Leben, ihr Sein, ihr Herz, ihre Gedankenwelt. So die Meinung ihrer Eltern. Diese galt es zu folgen, nicht zu hinterfragen. Die eigene Mutter ekelte sich derart vor ihr, so dass diese in die Türkei zog, um den Anblick, ja die unaussprechliche Schande der Tochter nicht tagtäglich zu ertragen. Die Mutter, die Stütze der Familie, blieb für ein ganzes Jahr verschwunden. Mehtap versorgte den Haushalt, die kleinen Geschwister und versuchte, bei all dem auch noch ihre Ausbildung abzuschließen. Eine westlich Orientierte. Mit mehr Menschenrechten. Der Druck innerhalb der eigenen vier Wände wuchs. Die Schläge brannten in ihrem Gesicht. Der religiöse Wahnsinn loderte auf. Der tägliche Rassismus wütete hinter modernen Türen. Angezündet von ihrer eigenen Familie. Bis, tja ..., bis Mehtap sich nicht mehr zurückhalten wollte. Sie wurde ungehalten. Sie brach aus. Erneut zerriss sie eine Kette, die sie an ein Leben binden wollte, welches nicht das ihrige war. Mehtap verließ ihre Herkunft, ihre Religion, die Anschauungen anderer Menschen, ihr altes Leben. Verzeih mir Allah! Verzeih mir! Plötzlich war sie wie ein Vogel, denn nun konnte sie zum ersten Mal etwas spüren: die ersehnte Freiheit! Und doch, nicht selten glich auch diese Freiheit einer Verbannung, einer Ächtung. Die junge Frau steht auf, rollt ihren Teppich zusammen. Denn wohin sollte dieser junge Vogel jetzt fliegen? Ein Teil der Seele war noch dort in der alten Welt gefangen. So leicht kommt man dann doch nicht davon. Es ist in ihr versiegelt, diese uralte Tradition. Wie ein heißer Stempel auf rohem Fleisch. Lange spürte Mehtap nur Hass. Hass auf den Islam. Hass auf bärtige Männer. Hass auf Kopftücher. Hass auf willensschwache Menschen, die ihre Gedanken, ihre persönliche Meinung untergraben, aus Angst vor unangenehmen Konsequenzen. Die junge Frau steckt den Teppich in den Rucksack und geht langsam zur Tür. Hier dreht sie sich um und schaut zu uns zurück. Sie wechselt zwischen Weinen und Lachen. Noch immer der verzweifelte Versuch, Mein Ich zu finden! Oft glaubt es zu wissen, Wer Ich bin. Und doch ..., So ganz gehör ich nicht in diese Welt. Sekunden, ach ... schon verflogen, Dies bisschen Glück. Schnell zerflossen, Aufgelöst zu Staub, Der mich betrügt. Zweifel kriechen empor, Bis tief ins Innere, Und betrachten mein neues Ich. Fremd, Unheimlich. Hört sie mich? Meine Klage? Meine Rede? Sieht sie die Tränen? All die Menschen um mich herum Betrachten nur die Maske, Die Beschützerin der wahren Seele. Wie können sie mich verstehen, Oft selbst nur Phantome ihres eigenen Ichs. Schnell sich verschließen. Wenn ein Jeder Nur den wahren Mut besäße, Sein wirkliches Ich zu offenbaren, So würde die Welt allmählich begreifen, Was Liebe wirklich zählt. Die junge Frau geht durch die Tür in den Vorraum. Mehtap hat lange gebraucht, eine neue Frau in sich entstehen zu lassen. Heute wohnt und arbeitet sie unter einem anderen Namen in einer Stadt, weit weg von der Vergangenheit. Sie lebt in einem Land, welches ihr die Freiheit gibt, ihre wahre Identität zeigen zu dürfen. Mit der Zeit gelang es ihr auch, ihren Glauben wieder anzunehmen, erlernte eine neue Liebe zu Dir, mein Gott, der ohne Angst und Macht ihr Herz erfüllt. Ich habe bemerkt, wie viele Teile aus der jüdischen und christlichen Tradition im Koran übernommen wurden, ja, wie verwandt die Religionen doch miteinander sind. Und damit sind wir alle Schwestern und Brüder. Die Thora, die Bibel und der Koran, sie sollten Bücher der Menschheit sein. Uns schützen, Mut machen und durch schwere Zeiten tragen. Dennoch auch aushalten, wenn jemand einem anderen oder auch gar keinem Gott folgt. Hier endet meine Rede. Mehtap hat ein Kapitel in ihrem Leben umgeblättert. Mit Neugier und Hoffnung wird sie nun weiterlesen und sich im Laufe ihres Lebens ein eigenes Menschsein erschaffen. Es werden noch viele wunderbare Momente folgen, daran glaube ich. Was also bleibt, ist die Idee einer Vision, eines Bildes, eines Traumes. Viele jedoch, konnten nicht ausbrechen. Für viele Frauen endete ihr Leben in einem viel zu frühen Tod. Und viele harren, in diesem Moment, in Angst und Schrecken hinter Türen und Fenstern aus, die keinen Blick ins Innere dulden. Wendet nicht eure Augen ab, wenn ihr Leid seht. Verschließt nicht euer Ohr, hört ihr leises Klagen. Redet miteinander, gewährt eine andere Meinung, die vielleicht nicht die Eurige ist. Nur so kann es uns gelingen, gemeinsam ein menschenwürdiges Dasein auf dieser Welt zu ermöglichen. Denn erst als ich zur Freiheit kam, war ein freies Leben möglich. Jin! Jizan! Azadi! Die junge Frau zieht das Kopftuch ab, schüttelt ihre langen Haare und holt aus dem Rucksack einen Lippenstift. In einem kleinen Spiegel betrachtet sie kurz ihr Gesicht, lächelt sich an, zeichnet ihre Lippen nach, nimmt ihre Schuhe aus dem Regal und verlässt barfuß die Moschee.    

28. April 2023 - 10. Mai 2023

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